Drei stumme Zeuginnen sitzen bereits am Tisch, bevor alle übrigen Gesprächsteilnehmer:innen anwesend sind. Drei Figuren aus weißem Tonkarton, die unseren Gast begleiten, eine Betroffene des Missbrauchs durch Pastor Jörg Deneke, der bis 1986 in der Stephanusgemeinde tätig war. Die Zeuginnen stehen für drei ebenfalls Betroffene, deren Namen bekannt sind, und für weitere namenlos Gebliebene.
Mit am Tisch sitzt eine Vertreterin von ‚Dialog Wolfsburg‘, einer nichtkirchlichen Anlaufstelle für Betroffene von sexuellem Missbrauch in Wolfsburg, Sie steht schon länger mit unserer ehemaligen Konfirmandin in Kontakt und hat sie auf dem nicht leichten Weg bis zum Zustandekommen des heutigen Termins begleitet. Teilnehmende sind auch Superintendent Christian Berndt, eine Mitarbeiterin des Kirchenkreises Wolfsburg-Wittingen als fachkundige Ansprechpartnerin in Fragen sexualisierter Gewalt, Pastor Tomás Gaete und Diakonin Anja Struck. Auch dabei sind drei Vertreterinnen unseres Kirchenvorstandes sowie ein altgedientes Gemeindemitglied, das die damalige Zeit als Kirchenkreis-Synodaler und als Kirchenvorsteher begleitet hat.
Unsere ehemalige Konfirmandin und Teamerin hatte die Idee und den Wunsch, sich mit den heute für die Stephanusgemeinde Verantwortlichen zusammenzusetzen. Es geht an diesem Nachmittag nicht um Anklagen und Schuldzuweisungen. Es geht darum, Sensibilität für Grenzverletzungen und übergriffiges Verhalten zu entwickeln, das oft genug nur das Vorspiel für den Missbrauch ist.
Mit ihrer Geschichte und ihren Erfahrungen will unser Gast uns helfen, eine Kultur der Vorbeugung und des bewussten Hinschauens und Hinhörens in der Stephanusgemeinde zu stärken. Dazu gehört zum Beispiel ein tragfähiges Schutzkonzept, das für unsere Gemeinde verbunden wurde mit der konsequenten Bemühung darum, junge Menschen sprachfähig zu machen. Nicht nur die Aufmerksamkeit muss geschärft werden, sondern auch die Fähigkeit, Worte zu finden für die Beobachtung unangemessenen Verhaltens und dieses ansprechen zu können.
Das Schutzkonzept ist inzwischen in unserer Gemeinde Bestandteil der Teamer- und Teamerinnenausbildung. An diesem Nachmittag wird es nochmal genau unter die Lupe genommen und an einigen Stellen entsprechend präzisiert. Es wird deutlich, mit der einmaligen Erstellung eines Schutzkonzeptes wird es nicht getan sein – vielmehr werden wir regelmäßig überprüfen müssen, wann und in welchen Punkten es ergänzt oder auch fortgeschrieben werden muss. Und nur dann, wenn die Arbeit mit jungen Menschen in einem Umfeld stattfindet, das von Achtsamkeit und Respekt geprägt ist, und zwar gegenüber Menschen aller Generationen, kann es seine Wirkung entfalten. Geplant wird auch ein Gottesdienst im Gedenken an die bekannten und unbekannten Betroffenen, um die Gemeinde an der Bemühung um Aufarbeitung teilhaben zu lassen.
Klar wird an diesem Nachmittag:
Aufarbeitung ist nicht mit einem Statement von offizieller Seite oder erbrachter finanzieller Leistungen in Anerkennung erlittenen Unrechts beendet! Aufarbeitung ist vielmehr ein Prozess, in dem immer wieder neue Fragen auftauchen und immer wieder nach neuen Antworten gesucht werden muss. Diesen Prozess wollen und werden wir weiterführen – gern auch im Dialog mit Betroffenen sexualisierter Gewalt.
Elisabeth Stöckel, stellvertretenden Vorsitzende Kirchenvorstandes